24/7
"The project 24/7 offered students the opportunity to build their own careful structures in their work processes in self-organisation and challenged them to go into collaboration. No individual collections were created. Instead, the group developed a collective collection that generated its power in solidary methods and division of the work into
different departments."
– Prof. Evelyn Sitter
Essay: Erschöpfungsstolz
Ich bin neu an der Burg, neu in der Mode. 24/7 ist mein erstes Projekt im Master Conceptual Fashion – ich betrete eine mir noch unbekannte Welt.
Ich kenne mich nicht aus, aber ich kenne den Stress. Auch im Bachelor habe ich Design studiert, ich beobachte, wie die Mode noch einen drauf setzt. Das Modedesign-Studium ist bekannt für seinen massiven Workload und die hohen Anforderungen an die Studierenden. Innerhalb eines Projekts fließen oft viele Bereiche zusammen: Theoretische Recherche, Konzeption, Entwerfen, Prototyping, Material-Recherche, das Erstellen von Schnittmustern, Fitting, technische Umsetzung, Dokumentation, Organisation, Styling, Präsentation.
Ich wusste es eigentlich schon, aber überrascht hat es mich doch. Die ersten Mode-Studierenden kommen um sechs Uhr morgens, die letzten gehen um fünf Uhr morgens. Besonders in den letzten Wochen vor Semester Abschluss steigen die Anzahl der Arbeitsstunden und der Grad der Erschöpfung rapide. Alles irgendwie normal, oder?
Wenn wir uns auf den Gängen begegnen, bleibt oft nur Zeit für einen kurzen Schlagabtausch: „Wie weit bist du?“, „Wie lange bleibst du heute?“, „Ja, ich bin auch gestern schon bis 2:00 geblieben.“, „Viel Glück!“. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Im Mittelpunkt dieser Begegnungen steht natürlich eine gegenseitige Unterstützung, aber auch das Level der Verausgabung wird immer wieder thematisiert. Denn der Endspurt steht an.
Es ist ein bisschen wie ein Rauschzustand, in dem alles andere immer mehr in die Ferne rückt. Für mich persönlich fühlt es manchmal so an, als würde ich in einem Paralleluniversum verschwinden, in dem meine Freizeit, aber auch meine Freunde und meine Familie kaum Platz finden. Jede wache Minute wird dem Projektabschluss gewidmet und Pausen fallen oft weg. Ich meine richtige Pausen – solche, die gebraucht werden, um zu reflektieren, wertzuschätzen und das Gelernte zu verarbeiten. Das Leben und die wichtigen Fragen rauschen vorbei, während ich meiner To-Do-List folge.
In der kreativen Arbeit habe ich dann oft das Gefühl, dass meine 100% nicht reichen. Am Ende des Tages trete ich immer seltener zurück und bin stolz auf das Geschaffte, weil ich den Blick dafür verloren habe. Es erscheint mir selbstverständlich, erst dann aufzuhören, wenn ich nicht mehr kann – alle gehen über ihre Grenzen hinaus. Wenn ich das nicht kann, bin ich für die Branche einfach nicht geschaffen, oder? Wenn ich erschöpft ins Bett gehe, dann weiß ich am Ende des Tages, dass ich alles gegeben habe, oder?
Wie weit können wir gehen, ohne unserer Gesundheit zu schaden? Und warum gibt es ihn, den Erschöpfungsstolz?
Erschöpfung gilt in unserer Gesellschaft als Zeichen dafür, dass wir hart arbeiten und uns bemühen, unsere Ziele zu erreichen. Es könne seit einigen Jahren ein Wechsel vom Werksstolz hin zum Erschöpfungsstolz beobachtet werden . Das Phänomen tritt immer häufiger auf. Es bezieht sich auf ein Gefühl der Zufriedenheit oder des Stolzes, das Menschen empfinden, wenn sie sich erschöpft oder überarbeitet fühlen. Dieses Gefühl kann auf verschiedenen Ebenen auftreten, von der Arbeitswelt bis hin zum persönlichen Leben. Der Grad der Erschöpfung wird zum Indikator für Fleiß und Leistungsfähigkeit – eine Art Statussymbol.
Ich erinnere mich daran, wie mir zu Beginn des Semesters davon erzählt wurde, wie viele Studierende im letzten Jahr ohnmächtig geworden seien – aus Schlafmangel, weil sie zu wenig getrunken hatten, aus Erschöpfung. In der Mode würde nachts immer noch Licht brennen. XY habe damals 2 Nächte durchgemacht, um die Looks noch fertig zu kriegen. Ja, es sei stressig, aber am Ende würde es sich auch lohnen, wenn dann die Models mit den Looks über den Runway laufen.
Besonders interessant finde ich, dass sich in diesen Aussagen auch ein Stolz über die Erschöpfung der Kommiliton*innen vermuten lässt. Ich denke, dass die Identifikation mit dieser Art Leistungskultur Sinn stiftend ist und uns dabei hilft, uns einerseits von anderen abzugrenzen und als Individuen zu begreifen, und andererseits als Teil eines großen Ganzen zu sehen. Ein großes Ganzes, das für ein hohes Maß an Ehrgeiz und Fleiß bekannt ist.
Wie schwer es ist, ein Maß zwischen unserer Arbeit und unserer Freizeit zu finden, ist auch im Kollektiv immer wieder Thema. Ich denke, dass wir lernen müssen zu erkennen, wann die Leidenschaft für die eigene Arbeit in eine Art Selbstausbeutung umschlägt. Genau dafür, immer wieder zu reflektieren, wo die eigenen Grenzen liegen, braucht es echte Pausen. Der Trend zum Erschöpfungsstolz trägt leider dazu bei, dass persönliche Grenzen nicht erkannt oder Warnsignale des Körpers übergangen werden. Ich bin mir sicher, dass wir nach der engen Zusammenarbeit im Kollektiv auch in zukünftigen Projekten mehr aufeinander achten werden und wir uns dabei helfen können, nachhaltigere Strategien für ein erfolgreiches Studium zu finden. Schließlich sollte es genau in der intensiven Studienzeit möglich sein, neue Wege zu suchen.
Institute: Burg Giebichenstein University of Art and Design
Supervision: Prof. Evelyn Sitter, Katharina Eichner, Gesine Försterling
Atelier Support: Isabel Fiedler, Maren Stemmler, Heike Becker, Sarah Breitner
Collection Date: 2023
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